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Zollfreie Gedanken

Realitätsverlust

Print-Ausgabe 25. März 2016

André Heller hat es vor vielen Jahren sinngemäß so gesagt: Er habe nicht nur nichts gegen künstliche Erlebniswelten im Tourismus, er finde sie im Gegenteil sogar ganz großartig. Würden nämlich die Touristen lieber die perfekt nachgebaute Kopie beispielsweise der Sixtinischen Kapelle besuchen, gäbe es für das Original keine Gefahr mehr, durch menschliche Ausdünstung und Atemluft irreparable Schäden zu erleiden. Seit der Zeit dieser bissigen Aussage ist es noch viel einfacher geworden, statt des Originals die Nachahmung zu besuchen. Man muss sich nicht einmal mehr einen Meter bewegen, es genügt ein iPad, besser noch eine digitale Ausrüstung und die Illusion ist perfekt. Das muss nicht unbedingt bei jedem gut ankommen. So entrang sich anlässlich der Präsentation einer High-Tech Skibrille, auf der zurückgelegte Pistenkilometer, bewältigte Höhenunterschiede und sogar eine Empfehlung für die nächstgelegene Skihütte eingespiegelt werden, einem staunenden Besucher die ironische Bemerkung. „Jetzt braucht man wenigstens nicht mehr die fade Landschaft anschauen.“

Für die Reisebranche hat die Entwicklung der digitalen Technik selbstverständlich unschätzbare Vorteile. Kann sie doch damit unter anderem die Kunden direkt im Verkaufslokal zu einem virtuellen Rundgang durch ihre Wunsch-Destinationen einladen, um sie zur Buchung zu animieren. Auch für Hotels ist es jetzt ganz leicht geworden, die Nutzer ihrer Website auf einem virtuellen Rundgang durchs Haus zu führen. Die Begeisterung der Gästebranche für die Segnungen der Digitalisierung ist daher nur allzu verständlich. Ähnlich dem Versandhandel ist sie nämlich darauf angewiesen, auf Distanz zu verkaufen, weil ihre Kunden das Angebot weder ausprobieren noch befühlen oder schmecken können. Da hilft es schon gewaltig, ihnen ein möglichst realitätsnahes Bild dessen, was sie erwartet, zu liefern. Die Betonung liegt auf nahe: Wenn nämlich das Abbild immer noch phantastischer, bunter und gleichzeitig bequemer daherkommt als die Realität, liegt der Schritt vom zu Hause Erleben bis zum zu Hause Bleiben gefährlich nahe. Noch dazu in Zeiten, da Einkommensverluste und grassierende, oft auch geschürte Ängstlichkeit vor Allem und Jedem der Reiselust gehörig zusetzen. Freilich bleibt trotzdem die Dynamik des weltweiten Tourismus ungebrochen. 2015 reisten so viele Menschen wie noch nie zuvor, mehr als 1,2 Milliarden. Reisen wird, wie es aussieht, auch weiterhin zu den liebsten Freizeitbeschäftigungen der Menschen zählen. Es geht eben nichts über das Hochgefühl auf einem Berggipfel, dem Knirschen unter den Füßen am Sandstrand oder dem Geschmack des Kaffees auf der Terrasse direkt vorm Dom. Doch gute Tourismuswerber wissen: Technologie sollte auf diese Gefühle nur neugierig machen, sie aber nicht ersetzen wollen.

Helmut Zolles

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