Print-Ausgabe 17. Oktober 2025
„Durch Overtourism entsteht eine Art Spannung zwischen touristischer Nachfrage und lokaler Lebensqualität“, berichtet Maria Katelieva
Diese besteht nämlich aus „Grätzel-Touren“ – eine Masterarbeit des Studiengangs „Urban Tourism & Visitor Economy Management“ untersuchte deren Effekte
Wien zählt ohne Zweifel zu den erfolgreichsten Städtetourismusdestinationen Europas: Mit 18,9 Mio. Nächtigungen wurden 2024 Rekorde erzielt, die bis Ende August um weitere +4,1 % übertroffen wurden (jene der Ausländer wuchsen sogar um +5,4 %). Mit dem Wachstum steigt jedoch auch die Belastung der lokalen Bevölkerung. „Die Gassen im 1. Bezirk werden durch überfüllte Hotspots ergänzt, es herrscht so etwas wie ein Spannungsfeld zwischen touristischer Nachfrage und lokaler Lebensqualität“, berichtet Maria Katelieva, Lektorin für nachhaltige Tourismusentwicklung und Destinationsmanagement an der FHWien.
Das Phänomen des Overtourism ist längst auch in Wien spürbar – wenn auch weniger dramatisch als in Venedig oder Barcelona. Eine Masterarbeit von Christoph Huber im Studiengang „Urban Tourism & Visitor Economy Management“ nahm diese Problematik zum Ausgangspunkt und widmete sich der Frage, ob die neu entwickelten „Grätzel-Touren“ ein geeignetes Mittel darstellen, um touristische Ströme in Wien besser zu lenken, die Innenstadt zu entlasten und zugleich positive Effekte für die Quartiere selbst zu erzielen.
In der Forschung wird „Overtourism“ als Zustand beschrieben, in dem die Zahl der Besucher:innen die Tragfähigkeit („Carrying Capacity“) einer Destination übersteigt. Die Folgen betreffen nicht nur die Infrastruktur, sondern auch soziale und kulturelle Dimensionen: steigende Mieten, „Gentrifizierung“ (einkommensschwächere Bewohner:innen werden verdrängt und durch wohlhabendere, statushöhere Gruppen ersetzt), die Inszenierung vermeintlich „authentischer“ Erlebnisse (also die künstliche Schaffung sowie Übertreibung lokaler Traditionen, Bräuche und Lebensweisen) und ein wachsendes Gefühl der Überforderung bei der lokalen Bevölkerung.
Um diesen Entwicklungen entgegenzuwirken, haben Städte unterschiedliche Strategien entwickelt. Während einige restriktiv vorgehen (Eintrittsgebühren in Venedig, strenge Vermietungsregeln in Barcelona, etc.), setzt Wien auf ein Modell des „New Urban Tourism“. Ziel ist es, Besucher:innen gezielt in weniger bekannte Stadtviertel zu führen, die sogenannten „Grätzel“, und dort neue, echt authentische Erlebnisse zu schaffen.
Dies ist wohl überlegt, denn „Grätzel“ als kleinräumige Nachbarschaften mit eigenem Charakter stehen für Alltagskultur, lokale Gastronomie, historische Eigenheiten und soziale Vielfalt. Mit den „Grätzel-Touren“ wurde im Mai vorigen Jahres ein Angebot präsentiert, das sowohl nachhaltige Stadtentwicklung unterstützen als auch die Besucherlenkung verbessern soll (32 Touren durch 17 Grätzel Wiens). Um im Rahmen der Masterarbeit die Wirksamkeit dieses Instruments zu beurteilen, wurden staatlich geprüfte Fremdenführer:innen befragt, die sowohl klassische Innenstadtführungen als auch „Grätzel-Touren“ anbieten. Die Analyse der Interviews zeigt, wie die Initiative in der Praxis funktioniert, wo Chancen liegen und wo noch Grenzen bestehen.
Die Erfahrungen der Guides sind vielfältig. Viele von ihnen begannen mit „Grätzel-Touren“ bereits während der Corona-Pandemie, als internationale Gäste ausblieben. Das Interesse lokaler Besucher:innen eröffnete Raum für neue, kreativere Formate. Heute sehen die Guides in diesen Touren eine willkommene Alternative zu den überfüllten Klassikerrouten durch Stephansdom oder Schönbrunn.
Das Interesse an diesen „Grätzel-Touren“ ist hoch, die verfügbaren Termine waren bisher rasch ausgebucht. Besonders angesprochen fühlen sich Wiener:innen, Menschen aus der Region sowie Wiederbesucher:innen, die Wien abseits der klassischen Sehenswürdigkeiten entdecken möchten. Internationale Erstbesucher:innen hingegen konzentrieren sich – wenig überraschend – weiterhin auf die bekannten Attraktionen.
Die Entzerrung des Besucheraufkommens ist allerdings bislang nur eingeschränkt spürbar. Zwar tragen die „Grätzel-Touren“ zu einer Angebotsdiversifizierung bei, doch die Zahl der Touren reicht derzeit nicht aus, um den starken Andrang im ersten Bezirk deutlich zu verringern. Guides berichten, dass Führungen in der Innenstadt an Spitzentagen zunehmend schwierig werden, während die Arbeit in den Grätzeln entspannter verläuft.
Ein bemerkenswerter Befund betrifft die Einstellung der Anwohner:innen. Während Bewohner:innen der Innenstadt die Belastungen durch den Tourismus zunehmend kritisch sehen, reagieren die Menschen in den Grätzeln überwiegend positiv. Viele suchen aktiv den Austausch mit den Besuchergruppen, erzählen Geschichten oder geben Empfehlungen. Diese Offenheit stärkt die soziale Dimension des nachhaltigen Tourismus.
Interessant sind auch die wirtschaftlichen und ökologischen Aspekte der „Grätzel-Touren“, denn lokale Gastronomie, kleine Geschäfte und kulturelle Einrichtungen profitieren besonders davon. Die Touren schaffen zusätzliche Nachfrage in Vierteln, die bisher abseits touristischer Routen lagen. Ökologisch sind die Auswirkungen überschaubar: Spaziergänge durch Wohnviertel verursachen kaum zusätzliche Belastungen.
Wie sieht es mit den „Grätzel-Touren“ Wiens im europäischen Vergleich aus? Durchaus interessant, denn während andere Städte mit strengen Regulierungen arbeiten, setzt Wien auf einen Ansatz der sanften Steuerung: Besucher:innen sollen nicht abgeschreckt, sondern gezielt gelenkt werden. Damit positioniert sich die Stadt im internationalen Diskurs als Modell für kooperative und integrative Formen der Tourismuslenkung.
Die Untersuchung verdeutlicht: „Grätzel-Touren“ besitzen ein beträchtliches Potenzial als Instrument nachhaltiger Tourismusentwicklung, fördern die Entlastung der Innenstadt, schaffen neue Impulse für die lokale Wirtschaft und stoßen in den betroffenen Vierteln auf hohe Akzeptanz. Gleichzeitig zeigen die Ergebnisse der Masterarbeit, dass die Initiative noch am Anfang steht. Um eine spürbare Wirkung zu erzielen, müssen Angebot und Sichtbarkeit deutlich ausgebaut werden. Auch die internationale Vermarktung spielt eine Schlüsselrolle: Nur wenn „Grätzel-Touren“ stärker in die Kommunikation gegenüber ausländischen Gästen eingebunden werden, können sie ihr volles Potenzial entfalten.
Die „Grätzel-Touren“ liefern ein praxisnahes Beispiel dafür, wie Wien im Rahmen der „Visitor Economy Strategy 2025“ den Tourismus nicht nur als ökonomischen Motor begreift, sondern auch als aktiven Beitrag zur Stadtgestaltung. Sie sind ein Schritt in Richtung einer zukunftsfähigen Balance zwischen urbaner Authentizität, Besucherlenkung und Lebensqualität.
Erstellt am: 17. Oktober 2025
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