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Zukunftsreise in die Niederlande (Teil I)

Alles Fahrrad! Von ersten Fehlversuchen über gelebte Gegenwart bis zur innovativen App

T.A.I. 24 TOP News

Für den starken Einstieg in das Thema „Mobilität der Zukunft“ sorgte Chris Bruntlett, Marketing Manager der „Dutch Cycling Embassy“ (www.cycling.nl). Die 2011 von Privatunternehmen, NGOs (Non-governmental organization), Unis, Forschungseinrichtungen sowie nationalen und lokalen Regierungen gegründete Organisation hat u.a. das Ziel, "unter dem Motto 'Bulding Bike Cities' unser Know-how in alle Welt zu transportieren“, wie Chris Bruntlett betonte. Aktuell werden die Niederlande von einem 36.000 km langen Radwegenetz durchzogen.

Als Geburtsjahr der niederländischen Radaffinität nennt Bruntlett die Jahre 1972 (Straßenunfälle mit Kindern) und 1973 (Energiekrise), wobei es in Tilburg und Den Haag in den Folgejahren zu zwei Fehlversuchen kam (beide führten nicht zu mehr Radverkehr). Daraus wurden die Lehren gezogen und 1979 der „Delft Cycle Plan“ entwickelt, benannt nach der dritten Stadt, die mit Unterstützung der niederländischen Regierung daran ging, eine moderne Fahrradinfrastruktur aufzubauen.

Der „Delft Cycle Plan“

Chris Bruntlett, Marketing Manager der „Dutch Cycling Embassy“ (www.cycling.nl), Zukunftsreise in die Niederlande von der Österreich Werbung und der WKO  (Teil I)

Das Revolutionäre an dem „Delft Cycle Plan“ war, nach eingehender Befragung aller Betroffenen die Entwicklung eines auf drei Stufen basierenden Netzwerkes aufzubauen:

  • Das „Urban Network“ für längere Überland- und Stadtfahrten von etwa 2 bis 3 Kilometern,
  • das „District Network“ (Fokus auf lokale Ziele, die ohne Netz nur über Umwege erreichbar wären) sowie das
  • „Nachbarschaftsnetzwerk“, das hauptsächlich darin besteht, Durchgangsverkehr aus Wohnstraßen zu entfernen.

Ergebnis war, dass die Niederlande seither auch als „weltbester Ort für Autofahrer“ gelten. „Wir verfügen über ein Netz für Autos, eines für Bikes und eines für Fußgänger“, so Chris Bruntlett. „Nur ein Netz für Autos zu entwickeln und den Rest danach zu auszurichten, hat sich als falscher Weg erwiesen.“

Die Fahrraddichte in den Niederlanden ist mit 23 Mio. Fahrrädern für 17 Mio. Einwohner*innen extrem hoch (aktuelles Verhältnis 1,35:1; in Österreich sind es 0,73:1). Viele besitzen ein günstigeres Rad für die Fahrt zur Arbeit und ein teureres für Sport. In Summe kommen die Niederländer*innen auf 17,6 Milliarden mit dem Rad gefahrene Kilometer pro Jahr, das sind rund 1.000 km täglich.

Bike-Sharing & Parkeinrichtungen

 

Wichtig ist für Chris Bruntlett zudem die Kombination von Fahrrädern und Öffis: „In den Niederlanden beginnen die Hälfte aller Bahn-Trips mit einer Bike-Fahrt zum Bahnhof.“ Wobei – und das ist ein wichtiger Punkt – keine Fahrräder in der Bahn erlaubt sind: „Das würde nur zu Chaos führen“, ist Bruntlett überzeugt. Aus diesem Grund gibt es an allen Bahnhöfen Parkeinrichtungen für Fahrräder sowie ausreichend Mietbikes. „Das Bike-Sharing ist bei uns extrem wichtig.“ Es werden auch spezielle Mobility Bikes für Ältere und gehandicapte Leute angeboten.

Stark im Kommen sind E-Bikes. Deren Nutzer*innen fahren im Schnitt mit 5,9 km um 64 % weiter, als „normale“ Fahrradler*innen (3,6 km). Der heutige Mix aus Bikern, E-Bikern und Food-Delivery-Services gehört laut Chris Bruntlett auch zu den neue Herausforderungen, für die Lösungen erarbeitet werden müssen. Das Wetter (in den Niederlanden variiert die Anzahl der Regentage zwischen 10 und 18 pro Monat) hingegen spiele eine vernachlässigbare Rolle, sie habe Chris Bruntlett zufolge „nur geringe Auswirkungen auf die Fahrradnutzung.“

Kombi von Öffis, Bikes und Zufußgehen

Leon Peeters, dem Senior Advisor Mobility der Gemeinde Utrecht, Zukunftsreise in die Niederlande der Österreich Werbung und WKO (Teil I)

Womit das Wort bei Leon Peeters, dem Senior Advisor Mobility der Gemeinde Utrecht lag. „Wir sind die Nummer 1 Bike City der Welt“, zitierte er gleich zu Beginn den „Global Bicycle Cities Index 2022“ des WEF (World Economic Forum). Als „Teil der zweit-wettbewerbsfähigsten Region Europas“ wächst die Stadt nach aktuellen Einschätzungen zwischen 2000 und 2040 um 185 %, womit Utrecht die am stärksten wachsende Stadt der Niederlande bildet. Leon Peeters: „Das ist vor allem auch eine Herausforderung für den Verkehr.“

Das Bike dürfte aber die Nase vorne haben. Denn während der Autoverkehr in diesem Zeitraum um 110 % zulegen sollte und jener der Öffis um 133 %, wird mit einem Anwachsen des Fahrradverkehrs um 173 % gerechnet. Die „Utrecht Strategie 2040“ definiert als Ziel, eine „Healthy Living City for Everyone“ zu werden. Gute Mobilitätsplanung sei dafür Voraussetzung. Als „10 Minuten Stadt“ werde die Infrastruktur laut Leon Peeters so ausgerichtet, „dass alle Punkte in 10 Minuten mittels einer geschickten Kombination von Öffis, Bikes und Zufußgehen erreicht werden können.“ Generell konzentriere sich die Strategie von Utrecht darauf, „mehr öffentlichen Raum für Leben zu schaffen, grüner zu werden und Autoverkehr zu reduzieren.“ Es funktioniere dies aber nur „Schritt für Schritt“ unter Einbindung der Bewohner*innen.

Erste und letzte Meile

Vortrag von Rebecca van der Host, Programmamanagerin Ketenmobiliteit von NS Stations, Zukunftsreise Österreich Werbung und WKO

Der „Bike-Train“-Kombination gewidmet war der Vortrag von Rebecca van der Host, Programm-Managerin Ketenmobiliteit von NS Stations. Die Tochter der Bahngesellschaft NS (Nederlandse Spoorwegen) verfügt nicht nur über 400 Bahnhöfe des Landes, sondern betreibt auch das Fahrradverleihsystem „OV-fiets“ (OV für Öffentliche Verkehrsmittel und Fiets heißt auf Niederländisch Fahrrad).

Das Netz umfasst mehr als 700 Fahrradstationen an den Bahnhöhen, 53 in bewachten „Self Service Parking“-Garagen und ebenso vielen, die mit Personal besetzt sind und zwischen 1.500 und 12.500 Fahrräder fassen (bei allen sind die ersten 24 Stunden gebührenfrei). Rebecca van der Host: „Wir registrieren rund eine halbe Million Bike-Parkings pro Tag.“ Das Rezept dafür lautet „so einfach wie möglich und leistbar“, was sich nicht zuletzt in einer 93,9-prozentigen Zufriedenheit der Konsument*innen ausdrückt.

Die Nutzungs-Intensität ist unterschiedlich: Während 42 % aller Passagiere mit dem Fahrrad zum Bahnhof fahren (je 22 % mit Bus und zu Fuß, der Rest mit dem Auto/Taxi), mieten am Zielort 14 % ein Fahrrad an, gehen 51 % zu Fuß, 26 % nutzen den Bus und 8 % setzen sich ins Auto/Taxi.

In Summe besitzt OV-fiets rund 21.000 eigene Bikes, mit denen vor der Pandemie (2019) rund 5,3 Mio. Trips unternommen wurden. „Das wird heuer mit Sicherheit übertroffen“, ist Rebecca van der Host überzeugt.

Das Angebot von OV-fiets sieht sie „als sehr populär für die letzte Meile.“ Die Mietkosten belaufen sich auf 4,5 Euro für 24 Stunden. „Das ist eine fixe Miete, egal wie lange“, betont Rebecca van der Host, der zufolge die User*innen die Mieträder zwischen 4 und 16 Stunden nützen. Alles werde digital abgewickelt (auch das Parken mit den eigenen Fahrrädern) und erfolgt somit ohne Wartezeiten. Mit der neuen App „OVpay“ will man nun auch vom Zahlungsverkehr profitieren. Rebecca van der Host: „Wir wollen immer innovativ bleiben.“

MaaS-App mit „deep integration“

Vortrag im Rahmen der ÖW-Zukunftsreise mit Stefan Bollars, Program Manager bei GAIYO

Für den Abschluss des „Fahrrad-Teils“ der ÖW-Zukunftsreise sorgte Stefan Bollars, Program Manager bei GAIYO. Mit dieser App (www.gaiyo.com) können unterschiedlichste Verkehrsdienste geplant, gebucht und bezahlt werden, von Autos, Motorrollern, Fahrrädern über Öffis bis hin zu Parkplätzen. Es handelt sich laut Bollars um eine MaaS (Mobility as a Service)-App, die verschiedene Mobilitätsdienste integiert, mit dem Ziel, für weniger Autos auf der Straße zu sorgen. „Aktuell besitzen noch 80 % der Niederländer Autos“, so Stefan Bollars.

Gestartet wurde die App vor eineinhalb Jahren, vorerst ausschließlich in den Niederlanden. Wie Stefan Bollars ausführte, ging es von Anfang an darum, für Konsument*innen alles einfach, flexibel und sorglos zu gestalten. Der Erfolg: Bis Mitte Oktober 2022 gab es rund 141.761 GAIYO-Downloads, die Zahl der tatsächlichen Nutzer liegt bei 15.548, die für 100.977 Transaktionen sorgten, wobei es laut Stefan Bollars derzeit jedes Quartal eine Verdoppelung gibt.

Alle Verkehrsträger sind inkludiert, von OV-fiets und Cargoroo (Cargo-Bikes), über NS (Nederlandse Spoorwegen) bis hin zu Sixt Car Sharing. Auf der GAIYO-App legen Nutzer*innen zunächst die Ankunftszeit am Zielort fest, worauf die Reisezeiten mit Auto, Bahn, Bus etc. samt aller Verbindungen sowie die Gesamtkosten des Trips errechnet werden. Laut Stefan Bollars stellt das Auto oft die schnellste Alternative dar, allerdings nicht die günstigste (GAIYO inkludiert in den Kosten auch jene für Parkgaragen bzw. Parkscheine etc.). Wird der Zug als Verkehrsmittel gewählt, kann gleich das Bahnticket gekauft werden.

Ebenso wird angezeigt, ob Carsharing verfügbar ist (GAIYO hat den Zugriff auf 3.000 Carsharing PKW) und wie es mit Mieträdern bzw. -mopeds aussieht (4.500 e-Bikes, 8.000 e-Mopeds). Diese von GAIYO verfolgte Strategie der „deep integration“, also Anbieter von Carsharing, e-bikes oder e-scooters etc. in die App zu integrieren, scheint aufzugehen. Stefan Bollars: „Erste Erfahrungen zeigen, dass die GAIYO App für 30mal mehr Fahrten genutzt wird, als jene, die nur auf deep links setzen und nicht deep integration leben.“

Weiter geht’s mit Teil II – Erradelte Impressionen >>>

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