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Die Reisefreiheit ist in Gefahr

Print-Ausgabe 24. April 2020

Wer in den letzten Wochen irgendein Medium konsumierte, hatte kaum eine Chance, nicht in eine Corona-Diskussion zu geraten. Man ahnte ja nicht, wie viele Experten für Virologie, Immunologie, Infektologie und andere einschlägige Spezialfächer es gibt. Der Eindruck für den diesbezüglich wenig vorgebildeten Informationskonsumenten: Ein offenbar unerschöpflicher Vorrat ermöglicht es, dass kaum einer von ihnen zwei Mal im Fernsehen auftreten muss. Zwei Dinge haben sie gemeinsam: Jeder hat eine eigene Meinung, die er mit Nachdruck als die einzig richtige vertritt. Raue Töne sind durchaus keine Seltenheit, vor allem bei deutschen Privatsendern werden Experten auch sehr direkt: „Wo haben Sie studiert, Herr Kollege? Sind sie überhaupt Arzt?“

Die zweite Gemeinsamkeit sind die Klagen über das völlig unzulängliche Datenmaterial. Tatsächlich ist es so, dass bestenfalls die Zahl der von der Seuche dahin Gerafften wirklich verlässlich ist. Wesentlich für die Beurteilung der Situation ist die Zahl der mit dem Virus Infizierten. Gezählt werden nur jene, bei denen es durch einen Test nachgewiesen ist, man weiß daher, dass es eine enorme Dunkelziffer gibt. Bisher gab es einen einzigen Versuch, diese festzustellen: Aus einem Zufallssample von 1.500 Befragten wurden zwischen 10.200 und 67.400 Infizierte ermittelt, mit einer Zauberformel wurden aus dieser indiskutablen Schwankungsbreite 28.500 „Wahrscheinlichste“ errechnet. Das ist offensichtlich eine jener zahlreichen „Studien“, die Infektiologe Christoph Wenisch als „eher anekdotischen Bericht“ einschätzt. Er ist der Leiter der Infektionsabteilung des Wiener Kaiser Franz Josef-Spitals und einer von jenen, die öfter in Funk und Fernsehen zu Worte kommen. Seine Expertise kommt aus der Spitalspraxis und ist lebensnah, auch wenn er meint, dass man das Virus erst dann wirklich los sein wird, wenn es eine Impfung gibt – also möglicherweise erst in Jahren. Zu Kompromissen ist auch er nicht bereit: Die Frage, ob der gewaltige Aufwand bis zum Absturz der Wirtschaft gerechtfertigt ist, bezeichnet er als absolut unzulässig. Von einem Mediziner, der den Hypokratischen Eid abgelegt hat, sollte man nichts anderes erwarten. Auch wenn die Frage nach der „Verhältnismäßigkeit“ immer lauter und der Druck auf Lockerung der Einschränkungen immer stärker wird.

Auf die Frage, ob Wissenschaft und Forschung „die Macht übernommen“ hätten, meinte Österreichs Paradephilosoph Konrad Paul Liessmann in einem Interview, dass Virologen, Mediziner und Ökonomen derzeit zwar im Zentrum stehen, aber unterschiedliche Meinungen vertreten. Die letzte Entscheidung muss daher die Politik treffen, was ja tatsächlich ihr Geschäft ist: Widersprüche wahrzunehmen, abzuwägen und zu entscheiden. „Es gibt niemanden der sagen könnte, das ist das einzig Richtige, was zu tun ist. Ich habe das Gefühl, dass man derzeit in der Politik nur alles falsch machen kann.“

In dieser Situation sieht sich die Regierung verstärkt mit der Frage der Opposition konfrontiert, auf welcher wissenschaftlichen Basis die Entscheidungen über die Einschränkungen aufbauen. Sebastian Kurz kommt damit ins Schwimmen: Wie begründet man, dass in Österreich der Sicherheitsabstand ein Meter und in Deutschland zwei Meter beträgt oder die zulässige Größe für die Öffnung von Geschäften bei uns 400 m² und bei den Nachbarn 800 beträgt? Dass dabei auch der Hausverstand eine Rolle spielt, kann er nicht gut sagen, obwohl er gelegentlich recht hilfreich sein kann. Etwa wenn die Kunststaatssekretärin Lunacek Publikum bei Veranstaltungen nur zulassen möchte, wenn jedem Besucher eine Fläche von 20 m² zur Verfügung steht – um die 1.340 Besucher des Burgtheaters unterzubringen, wäre eine Fläche von sieben Fußballfeldern nötig. Und dass Sportminister Werner Kogler für (angeblich) seine Idee, Tennis nur zuzulassen, wenn jeder Spieler seine eigenen gekennzeichneten Bälle benützt, ein Tennis-Anfängerkurs angeboten wird, ist auch verständlich.

Nicht aus den Augen verlieren darf man, dass eines der höchsten Güter der modernen liberalen Gesellschaft gefährdet ist: Die Reisefreiheit. Ohne sie gibt es keinen internationalen Tourismus als global agierenden Wirtschaftszweig. Die Reisefreiheit über (fast) alle europäischen Grenzen hinweg in Kombination mit der gemeinsamen Währung ist jene Errungenschaft, die von den EU-Bürgern bei jeder Umfrage am höchsten bewertet wird. Umso trauriger ist es, wie wenig davon übrig ist – wer kann mit dem Namen „Schengen“ noch etwas anfangen? Wenn das jämmerliche Bild, das die Europäische Union beim Auftreten globaler Probleme wie die Asyl- und Migrationsproblematik und nun die Corona-Pandemie bietet,  Basis für einen Neustart des „Friedensprojektes“ wird, wäre der positive Effekt gegeben, der ja angeblich in jeder Krise wohnt.

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