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Auch Chinesen zahlen noch bar

Print-Ausgabe 14. Februar 2020

Auf einem belebten Platz in Peking sitzt ein Bettler und hält den Passanten statt der üblichen Reisschale einen Zettel mit einem QR-Code entgegen: Wer ihm ein Almosen zukommen lassen möchte, zückt sein Handy, scannt den Code, tippt einen Betrag ein und sendet ihn auf das Konto des Empfängers.

Ob es diesen Online-Bettler wirklich gibt, sei dahingestellt. Ein Bettler in der chinesischen Öffentlichkeit klingt eher unwahrscheinlich. Als Testimonial dafür, dass die Digitalisierung unaufhaltsam fortschreitet und die Abschaffung des Bargeldes unmittelbar bevor steht, ist er jedenfalls in einschlägigen Diskussionen häufig präsent.

Wie es wirklich ist, hat die Tourismusforschung der Österreich Werbung in einer Studie zum Thema „Der smarter Gast“ in umfassender Form dargestellt. Bei einer Präsentation zum Jahresauftakt wurde vor allem das Thema „Mobile Payment“ behandelt, das Bezahlen per Handy. Emanuel Lehner-Telič, ÖW-Manager der Region Asien, der einen wesentlichen Beitrag zur Studie leistete, zeigte sich vor allem von der Dynamik und dem Tempo der Chinesen bei der Digitalisierung beeindruckt: Innerhalb weniger Jahre wurde ein „digitales Ökosystem“ aufgebaut, das China an die Weltspitze katapultierte: „Vor drei Jahren waren WeChat Pay und Alipay gerade im Kommen, heute geht ohne sie gar nichts mehr“. Das sind die Bezahlfunktionen der beiden Internet-Riesen Tencent und Alibaba, vergleichbar allenfalls mit Google und Facebook, bzw. Amazon – nur viel größer. Sie teilen sich 90 Prozent des chinesischen elektronischen Bezahlmarktes. Dieser ist allerdings nicht so dominant, wie es manche Darstellungen erscheinen lassen: Rund die Hälfte aller Zahlungen erfolgt noch immer über die traditionellen Kanäle, nämlich 25 Prozent mit Kreditkarten und immerhin noch mehr als 20 Prozent mit Bargeld. Obwohl in manchen Geschäften kaum mehr Wechselgeld zur Verfügung steht und bestimmte Transaktionen ausschließlich über Mobile oder Online-Payment möglich sind, hat die Regierung Ende 2018 ein klares Bekenntnis zum Bargeld abgegeben. Die Almosenschale des Bettlers hat also noch lange nicht ausgedient.

Aus der Sicht des Tourismus ist natürlich vor allem interessant, wie die Chinesen auf Reisen bezahlen. 2018 haben 69 Prozent der chinesischen Reisenden E-Payment eingesetzt, aber 75 Prozent nutzten auch Kreditkarten und 85 Prozent Bargeld. Der über Mobile Payment generierte Umsatz überstieg erstmalig jenen des Bargeldes. Auf die Frage, was für sie besonders wichtig ist, folgten nach einem kostenlosen WLAN die bargeldlosen Zahlungsmöglichkeiten WeChat Pay und Alipay, noch vor der Akzeptanz von Kreditkarten.

Auch die ÖW-Studie kommt zum Ergebnis, dass starke Zuwächse bei bargeldlosen Zahlungsformen nicht automatisch auf eine Ablehnung der traditionellen Möglichkeiten schließen lassen. Nach einer aktuellen Umfrage der ING Bank wären in Österreich – ähnlich wie in Deutschland und der Schweiz – nur 10 Prozent bereit, auf Bargeld ganz zu verzichten, in den Niederlanden 14 Prozent, in den USA 18 und in Italien 23 Prozent. Auch in Schweden, wo (gemeinsam mit Dänemark) der bargeldlose Zahlungsverkehr in der westlichen Welt am weitesten fortgeschritten ist, wünscht man sich keine Abschaffung des Bargeldes. Man muss kein Drogenhändler, Geldwäscher oder Steuerhinterzieher sein, um die schnelle und verlässliche, von technischen Funktionen unabhängige Verfügbarkeit, Einfachheit und Anonymität dieser ältesten Zahlungsform zu schätzen.

Gerade in Schweden wächst die Skepsis gegenüber bestimmten Folgen der Digitalisierung: Sie können zu einer totalen Überwachung der Staatsbürger führen. Der bargeldlose Zahlungsverkehr schafft dafür eine der wesentlichen Voraussetzungen. Davor warnt auch China-Experte Emanuel Lehner-Telič: „Die Digitalisierung schafft viel Convenience, aber auch Effekte, die uns in Europa abschrecken.“ Beispiele: Einem Busfahrer wird eine Geldbuße vom Konto abgebucht, weil die Bordkamera zeigte, dass mehr als zwei Fahrgäste nicht angeschnallt waren. Wer bei Rot eine Kreuzung überquert, muss damit rechnen, dass – automatische Gesichtserkennung macht’s möglich – im Social-Credit-System, das Wohl- und Fehlverhalten der Bürger registriert, ein Gutpunkt gestrichen wird. Ab einer bestimmten Punktezahl gibt’s dann Sanktionen, etwa das Streichen einer Auslandsreise.

Schön langsam muss man sich damit abfinden, dass Digitalisierung auch in die falsche Richtung führen kann und es muss zulässig sein, das bis zu Ablehnung zu kritisieren, ohne damit automatisch als Saboteur des Fortschrittes diskreditiert zu werden. Bequemlichkeit und Wirtschaftlichkeit sollten dabei nicht der einzige Maßstab sein.

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