Standpunkt

Recht auf Grießkoch

Print-Ausgabe 6. Oktober 2017

Es gehört zu den unerfreulichsten Kindheitserinnerungen: der Grießkoch. Abends, bereits im Pyjama, saß man vor einem vollgefüllten großen Teller, der unter Androhung schwerster Sanktionen à la „sonst kommt das Christkind nicht“ oder „sonst gibt es schlechtes Wetter“ komplett auszulöffeln war.

Besonders schlimm wurde es, wenn in liebevoller Fehleinschätzung eine kräftige Brise Schokoladepulver über den Grießbrei gestreut wurde, während sich die älteren Geschwister an Schnitzel, Backhendl oder anderen Leckerbissen delektierten. Die in den Grießkoch tropfenden salzigen Tränen ließen das Auslöffeln zu einer nahezu unlösbaren Aufgabe werden. So ein Grießkoch steht nun vor Österreichs Tourismus. Und zwar in Form der „EU Datenschutz-Grundverordnung“, die ab 25. Mai 2018 zur Anwendung kommt – fünf Tage nach Pfingsten, jenem Feiertag, an dem nach christlichem Glauben das Kommen des Heiligen Geistes gefeiert wird.

Während letzterer für Erleuchtung sorgt, tut die EU Datenschutz-Grundverordnung – pardon – „Verordnung 2016/679 des Europäischen Parlamentes und des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG“ das genaue Gegenteil.

Am Auslöffeln kommt trotzdem niemand vorbei, droht doch ein Strafausmaß von bis zu 20 Millionen Euro oder 4 Prozent des Umsatzes.

Beschäftigen wir uns also näher mit der Datenschutz-Grundverordnung, zu deren Erlass die Erwägung von nicht weniger als 173 Gründen geführt hat. Sie werden detailliert auf den ersten 31 Seiten der Verordnung aufgezählt, inklusive kreativer Wortschöpfungen wie „Pseudonymisierung“ oder existenzieller Ansprüche, wie dem „Recht auf Vergessenwerden“.

Wer nach Durchackern dieser 21.686 Wörter, aufgeteilt in 351 Absätze, noch nicht komplett die Nerven weggeschmissen hat, dem ist das Glück beschieden, zum Kern der Datenschutz-Grundverordnung vorgedrungen zu sein. Dieser umfasst 11 Kapitel, unterteilt in 99 Artikel und 412 Punkte, die teilweise in bis zu 25 Unterpunkten aufgegliedert sind.

In Summe gilt es 1.786 Absätze und 49.286 Worte zu erfassen. Da ist man schon einige Zeit beschäftigt. Ein durchschnittlicher, geübter Leser schafft 200 bis 300 Wörter pro Minute, sofern der Text nicht übermäßig kompliziert ist. Gehen wir also von der Hälfte aus und freuen uns auf sechs „pseudonymisierte“ Lesestunden – ohne Pause versteht sich. Dazu kommt als nicht unwesentliche, ergänzende Lektüre das 15.497 Worte umfassende österreichische „Datenschutz-Anpassungsgesetz 2018“, das weitere zwei Stunden Lesestoff bietet.
Wer sich da nicht komplett vergisst, kann künftig zumindest das „Recht auf Vergessenwerden“ in Anspruch nehmen, sehnt sich angesichts der auf uns zukommenden, erdrückenden Datenschutz-Lawine nach einem riesengroßen Teller Grießkoch der

Lupo

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