T.A.I. Exklusiv-Interview

„Tourismus-Organisationen müssen ab und zu auch Spielverderber sein!“

Print-Ausgabe 14. Juni 2019

Er steht seit 12 Jahren an der Spitze des WienTourismus und gilt als ebenso kritischer wie kreativer Denker: Norbert Kettner. T.A.I. traf ihn zu einem ausführlichen Interview, bei dem es um Kennzahlen, den öffentlichen Raum, die Zusammenarbeit mit Österreich Werbung (ÖW) und die AD10 (Allianz der 10), sowie um die sich ändernden Aufgabenstellungen einer LTO (Landestourismusorganisation) im Zeitalter der Digitalisierung ging.

T.A.I.: Wie sehen Sie den WienTourismus im Vergleich zu den LTOs der Bundesländer?

Kettner: „Wien ist ein Sonderfall, und das bereits organisatorisch. Wir haben viel Autonomie und als Körperschaft öffentlichen Rechts formal nicht einmal einen Eigentümer. Unsere Rolle als Kurator ist unbestritten. Wir sind für die Tourismusdestination Wien so etwas wie Schaufensterdekorateure und im Schaufenster muss immer das Beste sein. Kein Marketingplan von uns ist älter als fünf Jahre. Unser Wettbewerb ist ein globaler, und dem stellen wir uns auch.“

T.A.I.: Klingt das nicht etwas abgehoben?

Kettner: „Das hat mit Abgehobenheit nichts zu tun, sondern deckt sich mit unseren Leitmotiven. Was ist die Stadt? Sie ist authentisch, aber nicht provinziell. Sie ist weltläufig, aber nicht verwechselbar. Das ist der Leitstrahl, an dem wir arbeiten. Wir verstärken die positiven Aspekte und neutralisieren die negativen. Die Energie folgt der Aufmerksamkeit.“

T.A.I.: Ist bei der touristischen Entwicklung von Wien nicht irgendwann einmal der Plafond erreicht?

Kettner: „Der erfolgreiche Run überrascht uns manchmal selbst. Auch die Umsatz-Entwicklung ist kein Strohfeuer. Bei der Preisdurchsetzung ist es den Betrieben gelungen, Nerven zu bewahren – da ist scheinbar wirklich etwas passiert. Das Ende der Fahnenstange ist noch lange nicht erreicht. Das betrifft auch die Zufriedenheit der Bevölkerung und der Gäste, die wir laufend messen. Wir haben nie Jubelmeldungen rausgelassen, sondern wir sagen, wie’s ist. Und wenn’s einmal nach unten geht, werden wir das auch kommunizieren.“

T.A.I.: Der WienTourismus kommuniziert als einzige LTO auch Umsätze …

Kettner: „Wir stellen die Umsätze der Hotellerie immer an die erste Stelle unserer Aussendungen, dazu den RevPAR (Revenue per available room) und die Auslastung von Zimmern und Betten. Ich glaube, dass diese Indikatoren wichtig sind. Die Hotellerie beschäftigt sich täglich damit. Ich gehöre nicht zu jenen, die Indikatoren abschaffen, damit man nicht mehr messbar ist. Wir wollen Wachstum, aber eines, das mehr Geld in der Stadt lässt.“

T.A.I.: Haben es Städte-Ziele diesbezüglich leichter als Feriendestinationen?

Kettner: „Städte haben zweifelsohne derzeit einen guten Run. Aber unabhängig davon lautet unsere Devise: Was wir erfüllen können, kommunizieren wir. Wir wissen genau, wo unsere Schwächen sind und versuchen sie zu neutralisieren.“

T.A.I.: Themenwechsel: Wie stehen Sie zur AD10? Ist der WienTourismus noch dabei?

Kettner: „Ja. Aber Norbert Kettner ist als Person Ende 2018 aus der Geschäftsführer-Gruppe der AD10 ausgestiegen. In den AD10 Arbeitsgruppen sind wir aber weiter dabei. Das macht Sinn.“

T.A.I.: Was hat Sie zum Ausstieg aus der AD10 Geschäftsführer-­Gruppe bewogen?

Kettner: „Sie hat lange Zeit gut funktioniert, weil Themen, bei denen es naturgemäß keinen Konsens geben kann, nicht gepusht wurden. Mittlerweile hat sich das geändert. Daher sind bei uns derzeit verschiedene Mitgliedschaften unter Beobachtung. Das betrifft etwa auch das ACB (Austrian Convention Bureau). Wien ist ja bekanntlich das Bundesland, in dem ein Drittel aller Veranstaltungen stattfindet. Im Kern muss es immer um die Frage gehen: Stärken wir mit einer organisatorischen Kooperation den Gesamtauftritt? Wir leiten unsere Energien dorthin, wo wir etwas lernen. International sind wir in einer ständigen Arbeitsgruppe mit Städten, wie Paris, Barcelona, Hamburg, Amsterdam und Berlin sowie Brügge als Sonderfall – eine kleine Stadt mit unheimlichem Tourismusaufkommen. Wir tauschen uns ständig aus und treffen uns mindestens zweimal pro Jahr.“

T.A.I.: Wie steht es um die Zusammenarbeit mit der ÖW?

Kettner: „Wir kooperieren massiv. Wir sind der größte und ein zufriedener Kunde der ÖW und nehmen das bis hin zur Logo-­Präsenz von Österreich mit, auch wenn eine Aktion zu 100 Prozent von uns bezahlt wird. Das machen die wenigsten Bundesländer. Österreich hat mit der ÖW einen starken Muskel. Die Auslandsbüros sind ein großes Asset der ÖW. Bei aller Digitalisierung: Du brauchst vor Ort auch Präsenzen.“

T.A.I.: Welche Rolle wird der WienTourismus beim „Future Lab“ der ÖW spielen?

Kettner: „Wir werden auf jeden Fall beim Digitalisierungs-Labor der ÖW mitmachen. Wir sind zwar in den Bereichen Business-Intelligence und globale Entwicklungen auf uns gestellt bzw. im engen Austausch mit unseren europäischen Kollegen. Fest steht aber: Alle Phänomene, die in einer Stadt auftreten, treten später auch in den Bundesländern auf, wie z. B. Air­bnb. Derzeit haben wir in Wien 11.000 Angebote, Tendenz stark steigend. Da muss der Bund dringend aktiv werden, über alle bürokratischen Hürden hinweg. Ich bin für die Registrierung, damit alle Landes- und Bundesabgaben bezahlt werden. In Wien sind vor kurzem die ersten Strafverfügungen hinausgegangen.“

T.A.I.: In welche Richtung entwickelt sich die Rolle des WienTourismus als LTO?

Kettner: „Wir decken mehr und mehr auch den Bereich Destinations-Management ab. Man kann sich an Fragen der Städte- und Kommunalentwicklung nicht mehr vorbeischwindeln. Wir setzen uns deshalb bei unserer Visitor-Economy-Strategie stark mit den Themen Raumordnung, Architektur und Stadtplanung auseinander, damit sich alle wohlfühlen.

Eine der schlimmsten Hypotheken z. B., die wir uns in Österreich – einem der schönsten Länder der Welt – aufgebaut haben, ist die Verhüttelung. Sie ist das Ergebnis einer nicht vorhandenen Raumordnung. Dörfer haben in Österreich, anders als etwa in Bayern, keine Grenzen mehr. Wir ruinieren uns damit ein wichtiges Asset und verbauen uns die Zukunft. Denkkritisch muss man auch sehen, dass sich Nachhaltigkeit am Land abspielt. Der Wiener verbraucht mit 5,5 Tonnen CO₂ pro Jahr die Hälfte eines Österreichers (11 Tonnen CO₂ pro Jahr).

Auch im Städtetourismus gibt es Themen, die uns Sorgen bereiten: nicht Touristen sind das Problem, sondern das schnelle Geld, das mit Touristen auf Kosten des öffentlichen Raums gemacht wird, wie beim Ticketverkauf vor dem Steffl. Wir brauchen keine Rikschas und auch keine nachgebauten Oldtimer. Ich hätte gern ein Disneyland in Wien, aber nicht am Stephansplatz. Da geht es nicht um die daraus erzielten Gewinne, sondern wir machen uns Sorgen, dass die Bevölkerung diese Entwicklungen nicht mitträgt. Wir müssen als Tourismus-Organisation ab und zu auch Spielverderber sein.

Fakt ist: Das klassische Marketing von Tourismus-Organisationen wie vor 20 Jahren wird mehr und mehr von datengetriebenen Algorithmen gemacht. Wir müssen uns darum kümmern, wie wir als Destination fit bleiben. Wir wollen eine lebendige Stadt, aber in einer Art Lebendigkeit, bei der wir die BewohnerInnen mitnehmen.“

T.A.I.: Wo sehen Sie Wien als Tourismusdestination im Jahr 2025?

Kettner: „Immer noch als eine der schönsten Städte der Welt. Ich hoffe, dass sich der seit eineinhalb Jahren abzeichnende Trend des stärkeren Umsatzwachstums verfestigt hat und zum Standard wird. Bezüglich Stadtentwicklung hoffe ich, dass sich Multizentralität einstellt, dass wir aus Bezirkszentren lebendige Zentren machen. Ein Schmerzpunkt sind die Öffnungs-Zeiten. Hier hoffe ich, dass wir Fortschritte haben, z. B. dass Geschäfte an zehn Wochenenden aufmachen dürfen. Es ist mein Wunsch, dass wir hier deutliche Fortschritte erreichen. Und dass Wien kosmopolitisch bleibt. Das ist ein Leitmotiv und zentrales Element unserer Strategie: Ordnen wir uns unter die konstruktiven Kräfte Europas ein!“

Norbert Kettner mit Vogue-Redakteurin Suzy Menkes

Norbert Kettner mit Vogue-Redakteurin Suzy Menkes

Sujet der„Unrating Vienna“ Kampagne in Londons U-Bahn

Sujet der„Unrating Vienna“ Kampagne in Londons U-Bahn

Sujet der„Unrating Vienna“ Kampagne in Londons Straßen

Sujet der„Unrating Vienna“ Kampagne in Londons Straßen

Artikel teilen Artikel teilen per Mail verschicken ausdrucken

Erstellt am: 14. Juni 2019

Fotos ©: WienTourismus / Tom Hanslien / Wien Nord / Sujetfotografen: Paul Bauer (1), Peter Rigaud (1); paradiso-productions.com

Kommentar schreiben

Bitte die Netiquette einhalten. * Pflichtfelder

Nach oben