ANA
T.A.I. vor Ort in Moskau

„Russische Seele” als Fixpunkt zwischen Zwiebeltürmen, Kirchen und Überfluss

Print-Ausgabe 31. Oktober 2019

Neben dem Spannungsbogen unterschiedlichster Epochen und dem Status als Boom-Town sind es vor allem die Moskowiter, die ihre Stadt zu etwas Besonderem machen

Moskau ist riesig. Auf einem acht-spurigen langgezogenen Boulevard geht’s per Taxi von Scheremetjewo, einem der drei Flughäfen, zügig ins Zentrum. Der Verkehr (BMWs, Audis, Mercedes, Porsches und SUVs jeder Marke dominieren) ist dicht in der russischen Metropole, die nie schläft: Moskaus Lebensmittelgeschäfte sind 24 Stunden geöffnet, ohne Ruhetag – eine 13 Millionen Einwohner-Metropole (weitere 17 Millionen in der Region) im Aufbruch und Wandel, wie T.A.I. im Rahmen eines zweitägigen Trips beeindruckt feststellen konnte.

Zum Auftakt ein Hintergrundgespräch mit Nikolai Gulajew, Verantwortlicher für Sport der Stadt Moskau. Der ehemalige Eisschnelllauf-Olympiasieger (Cagliari 1988) kommt gleich auf die Fußball WM 2018 zu sprechen. Deren BesucherInnen attestierten der Stadt mehrheitlich Attribute wie „angenehm“ und „sicher“. Und als „angenehm” empfindet man Moskau trotz seiner Größe tatsächlich, weniger chaotisch als viele mitteleuropäische Großstädte. Zwar gibt es mehr Kontrollen (etwa beim Eingang zum Kaufhaus GUM oder beim Eintritt in große Hotels), aber wenig sichtbare Polizeipräsenz.

Seit Glasnost und Perestroika hat die materialistische Welt des Westens Einzug gehalten – von Ikea, McDonald’s und KFC bis zu großen internationalen Designer-Marken. Dennoch gibt es Vieles aus vergangenen Epochen, was eine Reise nach Moskau spannend, weil ungewohnt macht. Die Mischung ist einzigartig: Der Bogen spannt sich von Zarenzeit – kleine Holzhäuser, bürgerliche Villen und Paläste, orientalisch wirkende Kirchen mit märchenhaften Zwiebeltürmen bis hin zur roten Kremlmauer – über die kommunistische Ära (im Auftrag Stalins im sozialistischen Klassizismus erbaute Hochhäuser der 1950er-Jahre, palastartige Metro-­Stationen, überdimensionale Monumente und Denkmäler), bis zu den Errungenschaften des 21. Jahrhunderts (neues, hochmodernes Konzertgebäude in der Nähe des Kreml, spiegelnde Skyscraper etc.).

Auf der Moskwa sind alte Touristendampfer der Sowjet-Ära neben neuen, funkelnden Radisson-Schiffen unterwegs, Sowjet-Prestigebauten beherbergen 7-Sterne Luxushotels mit unvorstellbarem Komfort, und im GUM flaniert man zwischen Boutiquen mit Haute Couture aus Italien sowie Frankreich und Ständen mit russischen Agrarprodukten, von Honig über Käse bis hin zu Äpfeln.

Das berühmte 330 km lange Moskauer Metro-Netz ist meistgebrauchtes öffentliches Verkehrsmittel (täglich 10 Mio. Passagiere), ergänzt durch Bus- und Straßenbahnlinien. Car-Sharing befindet sich im Aufbau, Radfahrstrecken werden ausgebaut. Auch Tretroller, E-Roller und Boards sind bereits viel unterwegs.

Moskau bietet viel Grünland: zwei Fünftel der Fläche ist Parkanlagen gewidmet, mit dem Zaryadye Park (10,2 ha, 100.000 Pflanzen) im Zentrum als größter. Dazu kommt die Moskwa, die in Mäandern auf über 75 km durch die Stadt fließt und ausgedehnte Spaziergänge entlang der Ufer ermöglicht. Ein elegant geschwungenes Aussichts-Deck,– teilweise 13 Meter hoch über der Moskwa schwebend –, im Zaryadye Park bietet einen ausgezeichneten Blick auf den Kreml.

Das Wichtigste aber sind die Menschen. Erst die Moskowiter machen die Stadt so besonders. Die vielgeprüfte „russische Seele” entwickelte eine innere Qualität und Lebensfreude mit respektvoller Liebenswürdigkeit, die überall spürbar ist. Nirgendwo auf der Welt ist man sich offenbar der Bedeutung des Zusammenhaltens so bewusst, wie hier.

Natürlich kann extremer Überfluss zu Hybris, zu Manierismen führen. Moskau hat sich seit Anfang der 1990er-Jahre von einer der preiswertesten zu einer der teuersten Städte der Welt entwickelt. Rund eine Million Menschen besitzt hohe und höchste Kaufkraft, weitere zwei Fünftel der Einwohner gehören der neuen Mittelschicht an. Familien werden gefördert, vor allem wenn sie mehr als zwei Kinder haben. Junge Russinnen sind sehr auf ihr Äußeres bedacht, als russische Form der „bella figura”. Junge Männer wiederum legen Wert auf gut trainierte Körper, „work out shops” boomen.

Die Stadt ist bemüht, sich selbst zum „Event“ zu machen. Über das Jahr verteilt gibt es zahlreiche auf die Saison abgestimmte Veranstaltungen, von Weihnachten und Silvester bis zum internationalen „Circle Of Light“ im Herbst – ein fantasievolles Multimedia-Laserschauspiel mit abschließendem Riesenfeuerwerk, das Kleine und Große in eine Märchenwelt verführt. Und auch diesbezüglich sei die Feststellung erlaubt: Moskau ist riesig. 

Kommentar schreiben

Bitte die Netiquette einhalten. * Pflichtfelder

Nach oben