ANA
Rottenbergs Roadbook

Reisedilemmata, Teil 2: Nähe

Print-Ausgabe 16. Juni 2017

Letztes Mal ging es hier um das Problem, Menschen zu erklären, dass ein Ziel nicht „weit weg“ – also mühsam zu erreichen – , sondern „die Reise wert“ – also den Aufwand rechtfertigend – ist. Es ging um Locken und Motivation. Um die Kunst, Menschen aus ihrer Komfortzone zu locken und sie vergessen zu lassen, wie lang und -wierig der Weg sein kann.

„Das“, schrieb mir X, „ist aber nur die halbe Wahrheit. Entfernung ist die eine Hälfte des Problems des Reisens. Die andere ist Nähe.“ Das Schlimme daran, schreibt X, sei, „dass es dafür kein Verständnis gibt“.
Anfangs habe ich X Lamento auch nicht verstanden. Dann lud er mich ein. Zu sich. Nach Bratislava. In die nette, kleine Schwesterstadt Wiens donauabwärts. Hier führt X eine Pension.

„Was verbindest du mit Bratislava“, fragte X. Slowakische Hauptstadt. 420.000 Einwohner. Flughafen. „Sonst was?“ Wenig. Doch: Die Altstadt. Ein netter, kurzer Spaziergang. „Bleibst du über Nacht? Brauchst du ein Zimmer?“ Ich lehnte ab. Dankend. Übernachten? In Bratislava? Wozu? Der Zug fährt 45 Minuten nach Wien. Das Auto ist noch schneller.

X sah mich an. Schelmisch – und traurig. Ich verstand. Nickte. X seufzte: „Verstehst Du jetzt? Die Leute kommen gerne hierher – und sind wieder weg. Und das ist die andere Hälfte des Problems: Das Problem der Nähe. Wenn es keinen Grund gibt, auch zu bleiben.“

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