ANA
Rottenbergs Roadbook

Narziss und Selfie

Print-Ausgabe 6. Oktober 2017

Dass der Blick in den Spiegel, alles – inklusive der Naturgesetze – vergessen macht, ist seit der Antike bekannt: Narziss, der Sohn des Flussgottes Kephissos, war so in sein Spiegelbild verknallt, dass er vor Kummer starb, als Wellen das Bild seines Antlitzes „entstellten“. Eine andere Legendenversion besagt, er sei beim Versuch, sich dem angebeteten Wesen zu nähern, ertrunken.

Narziss war eine arme Sau: Anzahl und Qualität der verfügbaren (Selbst)-Reflexionsflächen waren enden wollend. Darum beschädigte er nur sich selbst. Heute ist das anders: Ich musste unlängst am Motorrad eine Notbremsung hinlegen, weil vor mir einer verzückt von Eigenbild, Auto & Landschaft spontan angehalten hatte – und ohne Rücksicht auf Verluste Selfies machte. Und zwar auf der Autobahn. Auf der Überholspur.

Das eigene Spiegelbild schaltet aus, was uns die Evolution über Jahrmillionen lehrte. Etwa Objekte – beweg wie unbewegt – entlang der eigenen Bewegungsachse zu sehen: Baugrube? Sattelschlepper? Wurscht – solange das Bild passt.

Darum habe ich mittlerweile gelernt, auf der Hut zu sein. Immer. Auch zu Fuß: Hebt einer das Handy oder trägt er es wie eine Monstranz am Stock vor sich her, gilt der Vertrauensgrundsatz nicht.

Und irgendwo sitzt Narziss auf einer Wolke, schaut herunter – und vergisst vor lauter Lachen & Staunen, was ihn berühmt gemacht hat: Den Blick in den Spiegel.

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