Rottenbergs Roadbook

Angelehnt

Print-Ausgabe 3. Juni 2016

Die Dame auf Platz A sagte, dass es eine Regel gibt. Nur sei ihr gerade entfallen, wer die wann wo formuliert oder niedergeschrieben hat. Aber, meinte die Dame auf A, ich könne ihr vertrauen. Sie kenne sich aus. Schließlich sei sie älter als ich – und flöge öfter. Dann gab sie mir einen Stesser – und schon lag ihr Arm auf der Armlehne.

Ihr Blick wurde eisig: Ich möge nicht einmal dran denken, meinen Arm wieder auf das schmale Bord zu legen. Das gehöre ihr – und zwar auf ganzer Länge. Denn, sagte ihr Blick, sie habe mir ja zuvor erläutert: „Die Armlehne zwischen zwei Flugzeugsitzen gehört der Dame. Immer.“ Eine andere Regel braucht man mir nicht zu erklären: Männer rempeln Frauen nicht an. Und gehen nur auf Tuchfühlung, wenn die Signale eindeutig sind. Nebeneinandersitzen ist aber weder Signal noch Einladung.

Ja eh: Es gibt Themen, die keine sind. Eigentlich. Außer Sie haben in der Holzklasse beim Sitzplatzlotto verloren. Und zum Mittelsitz noch den 150-Kilo-Nachbarn erwischt. Der kann nicht anders, als zu Ihnen zu wachsen. Zu ragen. Zu metastasieren. Und auf Platz A räkelt sich die 1,45 kleine, schmale und zierliche Dame – den Arm an der Armlehne festgeschraubt.

Was ich getan habe? Das unvermeidliche: Gekuschelt. Es war gar nicht schlimm: Der 150-Kilo-Mann war freundlich, warm und weich. Irgendwann sind wir eingeschlafen. Kopf an Schulter, Arm an Arm, Bein an Bein.

Am Ende des Fluges waren wir Freunde. Und der Dame auf A dankbar: Ohne ihre Regel hätten wir einander ja nie gefunden.

Thomas Rottenberg

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