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Die Milliarden der Nachtwirtschaft

Print-Ausgabe 31. Mai 2019

Wien braucht dringend einen „Nachtbürgermeister“, der die „Nachtwirtschaft“ als Vermittler zwischen Veranstaltern, AnrainerInnen und Behörden dabei unterstützt, die ungenützten wirtschaftlichen Potentiale dieses Sektors zu erschließen. Vor allem die „Grünen“, SPÖ-Koalitionspartner in der Wiener Stadtregierung, und die Wiener NEOS verfolgen diese Idee, die in anderen Großstädten wie London, Paris oder Amsterdam bereits realisiert ist. Im Wiener Stadtparlament setzten sie die Ausarbeitung einer Studie durch, die den Stellenwert der „Wiener Nachtwirtschaft“ durchleuchten sollte.

Finanziert von der Wiener Wirtschaftskammer und ausgeführt von der KMU Forschung Austria liegt das Ergebnis seit einigen Wochen vor. Mehr als ein paar Eckdaten, die der Obmann der Sparte Tourismus und Frei­zeitwirtschaft Markus Grießler in einem Kurier-Interview offen­bar ausplauderte, sind aber bisher nicht bekannt: Das Forschungsinstitut will ohne Freigabe des Auftraggebers Kammer keine Details verraten und bis zu Redaktionsschluss dieser T.A.I.-Ausgabe ist es nicht gelungen, diese dazu zu bewegen.

Was bisher bekannt ist, klingt auf den ersten Blick spektakulär: Die 4.300 Betriebe der Nachtwirtschaft generieren mit 24.000 unselbständigen und selbständigen MitarbeiterInnenn eine Milliarde Euro Jahresumsatz, die sich in 440 Mio. Bruttowertschöpfung niederschlagen. Auf den zweiten Blick stellen sich aber wesentliche Fragen: Was ist „Nachtwirtschaft“? Ohne Definition ist die ganze Studie wertlos. Die Rede ist zwar immer von „Clubkultur“ und „Events“, es könnte aber ebenso gut alles sein, was nach 22 Uhr noch in Betrieb ist, etwa Theater, Taxis oder Organisatoren von Veranstaltungen. 4.100 Betriebe haben eine Getränke- oder Speisenorientierung, nur 200 sind Event- oder Kulturbetriebe. Im Fachverband Gastronomie gibt es aber nur 684 Bars, Tanzlokale und Diskotheken.

Wie viele von den 188 Würstel – und Kebabständen oder den 847 Kaffeehäusern gehören zur Nachtwirtschaft? Für keine dieser Betriebsformen gibt es valide Umsatzstatistiken. Woher kommt die ausgewiesene Milliarde Jahresumsatz? Sie entspricht fast auf den Euro genau dem Nächtigungsumsatz der gesamten Wiener Beherbergungswirtschaft. Die Erkenntnis, dass dieses Ergebnis weit jenseits der Realität liegt, wäre ein plausibler Grund, es in einer Schublade zu versenken.

Zufällig hat die „Clubkommission Berlin“ – ein privater Verband der Veranstalterszene – zur gleichen Zeit eine Studie mit dem Titel „Clubkultur Berlin 2019“ mit sehr ähnlicher Zielsetzung ausarbeiten lassen. Ergebnis: Die legendäre Club- und Partyscene Berlins generierte im Vorjahr einen Umsatz von 1,48 Milliarden Euro. Und das errechnet man so: Von den 13 Mio. BesucherInnen Berlins kommt ein Viertel hauptsächlich wegen der Clubszene. Woher man das weiß? 500 BesucherInn wurden befragt – in den Clubs, wo sonst. Bei einem durchschnittlichen Aufenthalt von 2,4 Tagen und Tagesausgaben von 205 Euro ergibt das diesen enormen Wert, zu dem noch die Ausgaben der Berliner selbst kommen.

Wie die Realität jenseits solcher Praktiken ausschaut, wurde auch erhoben: Die 280 Clubs und Veranstalter – also die Nachtwirtschaft selbst- erwirtschafteten einen Umsatz von 168 Mio. Euro, 21 Prozent machen Verluste, 30 schaffen eine Kostendeckung, weniger als die Hälfte macht Gewinn.

Dass der Sektor trotz allem in Wien viel Potential haben soll, belegt die KMU-Studie mit einer höchst innovativen Online-Recherche: Wenn man auf Google „Party + London“ eingibt, ergibt das 975 Mio. Treffer, in der Kombination mit „Berlin“ 476 Mio., mit „Wien“ aber nur 92 Mio. Das muss doch jeden überzeugen, dass irgendwo ungenutzte Milliarden herumliegen! Sofern es ihn nicht irritiert, dass bei jeder Eingabe andere Zahlen – mit Abweichungen bis in den Milliarden-Bereich – herauskommen. Das System ist ausbaufähig: Die Kombination „Musik + London“ ergibt 2,75 Milliarden Treffer, mit Berlin 1,06 Milliarden und mit der weltberühmten „Musikstadt + Wien“ lediglich 142 Mio. Vielleicht ist es ratsam, mit dem Nachtbürgermeister auch gleich einen Stadlmanager zu suchen. Die Nachtwirtschafts-Milliarden müssen doch zu finden sein.

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